Zverev Who?

von Georges Burki

Es gibt wohl keinen russischen Maler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in der russischen und europäischen Künstlerszene im Sinne eines „artist’s artist“ so bewundert wurde wie Anatoly Zverev. Picasso nannte ihn den „grössten grafischen Künstler Russlands, dem ich noch viele schöpferische Jahre wünsche“. Verschiedene berühmte Kollegen wie Robert Falk und Vladimir Nemukhin hielten ihn für einzigartig. Sogar internationale Musiker-Koryphäen wie David Oistrach oder Igor Markevich sammelten seine Bilder oder organisierten Ausstellungen im europäischen Ausland.

Anatoly Zverev

Warum dieses Getöse? Was macht diesen Anatoly Zverev so herausragend?

Bei den meisten russischen Malern – auch wenn für die russische Kunstgeschichte bedeutsam – stellt sich aus europäischer Perspektive die ketzerische Frage, was sie nun wirklich Neues gebracht haben. In westeuropäischen Kulturkreisen finden sich meist entsprechende Vorgänger, auch wenn ihre russischen Epigonen diese teilweise handwerklich übertrafen und eigene Handschriften einbrachten – die russischen Kunstakademien gelten bis heute als handwerklich führend.

Anatoly Zverev hingegen brachte Neues und Einzigartiges. Erstmals für Furore sorgte er an den Weltjugendfestspielen 1957 in Moskau, wo er die vermeintlich überlegene westliche Malerelite mit einer kurzen Performance vorführte. Wie u.a. ein amerikanischer Journalist vom Anlass berichtete (vgl. I. Dudinsky, Die Entdeckung des Künstlers, Ogonek Nr. 33 08/1987), überrannte die junge amerikanische Künstleravantgarde den sozialistischen Realismus ihrer Sowjetkollegen mit einer Welle von „aggressiven“ Abstraktionen, die sie am Fliessband produzierten. Bis der ausgebildete Park-Anstreicher und Kunstakademie drop-out Zverev auf den Plan trat. Dieser goss zwei Eimer Farbe über eine spontan ausgebreitete Leinwand, sprang mitten in die blau-grüne Pfütze, um verzweifelt mit seinem Schrubber darin zu arbeiten. Nach zehn Sekunden lichtete sich zu Füssen der begeisterten Zuschauer ein grosses Frauenportrait, „virtuos gestaltet, raffiniert und mit einem feinfühligen Verständnis“.

Die Jury der Weltfestspiele unter dem Vorsitz des etablierten mexikanischen Künstlers und Stalinisten David Alfaro Siqueiros verlieh Zverev für seine Arbeiten den ersten Preis. Arbeiten, die notabene in krassem Widerspruch zu dem von Zverev abgelehnten sowjetischen Realismus standen. Drei Jahre später veröffentlichte das amerikanische Life-Magazin ein Selbstbildnis Zverevs, dessen Vergleich mit einem konservativen russischen Werk auf derselben Doppelseite dazu beitrug, das kulturelle Tauwetter in der Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow wieder abzukühlen.

Zverevs meist gegenständlicher, im weiteren Sinne expressionistischer Stil gilt auch im globalen Kunstkontext als einzigartig mit hohem Wiedererkennungswert. Er selbst bezeichnete ihn als „touchism“, allenfalls noch vergleichbar mit Jackson Pollock, den Zverev jedoch nicht kannte. Nebst dem „dripping“-Effekt – Pollock liess die Farbe aus einem Loch in der Farbdose auf die Leinwand tropfen, Zverev direkt aus der Tube – verbindet beide das Bestreben, während des schöpferischen Prozesses „selbst im Bild zu sein“ (vgl. Zverevs kurze Autobiographie aufgezeichnet von Vladislav Shumskij).

Gleichzeitig zeichnet Zverev eine aussergewöhnliche stilistische Vielfalt aus, die sich über unterschiedliche Farb-Materialien und Medien erstreckt, gemäss Zeitzeugen oft spontan aus dem Moment heraus entwickelt und gleich wieder aufgegeben. Zwar nannte Zverev Leonardo da Vinci und van Gogh als seine wichtigsten Vorbilder und begegnete in der Wohnung seines Mentors George Costakis Werken verschiedener russischer Avantgardisten. Trotzdem ist nicht nachvollziehbar, wie er sich im stark normierten sowjetischen Kunstumfeld autodidaktisch Maltechniken vom Kubismus bis zu Pop Art auf hohem Niveau aneignen konnte.

Nicht zuletzt gründet Zverevs Einzigartigkeit auf seinen russischen Wurzeln. Es geht hier nicht um eine vermeintliche, von Westeuropäern oft beschworene mystische (und natürlich „unverständliche“) russische Seele. Die Russen pflegen ihre kulturelle Identität und ihre weltweit bekannten künstlerischen Koryphäen genauso wie etwa die Deutschen, Franzosen oder Italiener. Hingegen unterscheidet sich Russland durch seine geographische, kulturelle und ästhetische Schnittstelle mit dem Orient. Zverevs Werke verkörpern diese „USP“ (unique selling proposition) exemplarisch:

Einerseits zeigen sie die Stileigenschaften und technische Qualität europäischer Vorgänger wie van Gogh, Mattisse oder die deutschen Expressionisten.

Andererseits finden sich bei Zverev eine Leichtigkeit und ein kontinuierlicher Fluss in der Ausführung, die wir vor allem von asiatischen Künstlern kennen. Alles scheint immer in Bewegung, nichts statisch oder mühselig „gemacht“. Tatsächlich erinnern Zverevs Aquarelle und Zeichnungen an Xu Beihongs oder Zhang Daqians Tuschmalereien von Tieren oder Landschaften. Igor Markevich berichtet, wie Jean Cocteau beim Anblick einer Serie von Pferden in schwarzer Tusche Zeverev entzückt einen „chinesischen Daumier“ nannte.

Damit einher geht Zverevs Philosophie des „Momentalismus“: die Intuition, die Eindrücke des Moments sind entscheidend und sollen durch den Künstler eingefangen werden. Genre-übergreifend findet sich ein ähnlicher Ansatz beim legendären Dirigenten Sergiu Celibidache. Der Philosoph und Mathematiker Celibidache, der sich als Europäer ein Leben lang mit dem asiatischen Zen-Buddhismus auseinandersetzte, liess seine Interpretationen explizit aus dem aktuellen Moment und Raum entstehen („in statu nascendi“). Folgerichtig lehnte er Plattenaufnahmen und eine damit verbundene Pseudo-Konservierung des ursprünglichen Moments ab. Dem Maler Zverev bot sein Medium eo ipso bessere Voraussetzungen zur Konservierung des Moments – er pflegte potenzielle Portrait-Kunden zu fragen: „soll ich Sie unsterblich machen?“

Zeitgenossen wie George Costakis oder Rubina Arutjunian-Zimmermann berichten, dass Zverev viel und überall gemalt hat: im Zoo, in der Metro, im Kino, mit den im Moment zur Verfügung stehenden Mitteln und Medien wie Salz, Mehl, Zigarettenkippen, unter Einsatz von Mal- oder Rasierpinsel, Zahnbürste, Obstmesser oder blossen Fingern.

Jeder Moment musste zügig eingefangen werden, bevor er entwischte. Legendär sind Zverevs atemberaubende Malgeschwindigkeit und Produktivität. Er soll zwischen Mitte der fünfziger Jahre und seinem Tod 1986 20’000 – 30’000 Bilder gemalt haben, vor allem Portraits, daneben Tier-, Blumen- und Landschaftsbilder sowie „archetypische“ Motive wie den heiligen Georg oder Don Quijote. Der Schriftsteller Vladislav Shumsky überliefert, Zverev habe oft 3-4 Bilder parallell gemalt, selten länger als 30 – 40 Minuten für ein Bild gebraucht, und viele seiner besten Bilder seien in 10-15 Minuten entstanden. Auch Zverevs Technik und Arbeitsprozesse waren auf ganzheitliches Erfassen des Objekts und letztlich auf Effizienz ausgerichtet. Er benützte seinen breiten Pinsel wie eine Palette, indem er erst alle benötigten Farben an unterschiedlichen Stellen des Pinsels auftrug. Danach verteilte er die Farben an den „strategischen“ Punkten der Malfläche, bevor er damit gestalterisch arbeitete und erst im letzten Moment für den Zuschauer eine erkennbare Gegenständlichkeit schuf.

Alexander Kronik, ein eminenter Sammler und persönlicher Freund des Künstlers während seiner letzten Lebensjahre erwähnt, wie Zverev auf seine Wette, möglichst schnell ein Pferd zu zeichnen, dieses innerhalb von gestoppten 18 Sekunden zu Papier brachte. Der Verfasser konnte das Pferd in A. Kroniks Wohnung bewundern: es scheint von hinten gezeichnet – eine schwierige Perspektive – und mit zur Seite gedrehtem Kopf vom Betrachter wegzutraben. Das ganze Bild bewegt sich, Alles befindet sich im Fluss.

In stetem Fluss befand sich auch Zverevs Leben. Ungepflegt und schlecht angezogen, auf der Strasse oder opportunistisch bei Freunden lebend, dauerbetrunken und oft im Suff von vermeintlichen Freunden geschlagen und ausgeraubt, im sowjetischen Staat ab und an psychiatrisch versorgt, könnte er an eine Art russischen Charles Bukowski verkörpert haben. Doch statt adoleszenter Bukowski-Plattitüden finden wir bei Zverev tiefsinnige, erschütternde Kunst in Bild und Wort – er schrieb auch Gedichte. Statt oberflächlicher Triebbefriedigung unterhielt er eine langjährige platonische Beziehung mit einer hoch kultivierten 30 Jahre älteren Mentorin. Er schrieb eine Abhandlung über das Dame-Spiel, das er meisterhaft beherrschte. Gemäss George Costakis stellte Freiheit Zverevs höchstes Gut dar, und in der Anarchie sah er die Mutter aller Ordnung. Dieses Credo setzte er konsequent in Kunst und Leben um.

Zverev pflegte Freundschaften mit eminenten Künstlern und Diplomaten, die sich von seiner philosophischen und intellektuellen Tiefe beeindruckt zeigten. Nach einer langen Diskussion mit Zverev meinte der Maler Robert Falk gegenüber George Costakis: „Du weisst, Costakis, ich schätze Zverev als Künstler, aber nach meinem heutigen Gespräch bin ich der Meinung, dass sein philosophischer Intellekt noch grösser ist, als seine unbestrittene Meisterschaft als Maler.“ Der Moskauer Anwalt Alexander Kronik betonte kürzlich gegenüber dem Verfasser, dass er seinen damaligen Freund Zverev heute noch als die wichtigste intellektuelle und spirituelle Leitfigur seines Lebens betrachte, obwohl er ihn nur während seiner letzten drei Lebensjahre gekannt hatte.

Zverevs Persönlichkeit und das besondere Charisma seiner Bilder motivierten immer wieder Persönlichkeiten aus Kunst, Politik und Wirtschaft, mit Publikationen und Ausstellungen diesem grossen Künstler zum endgültigen internationalen Durchbruch zu verhelfen. Bereits 1965 organisierte der Dirigent Igor Markevich eine Ausstellung in der Galerie Motte in Paris, 1977 berichtete George Costakis erstmals in London über „Inoffizielle Kunst in der UdSSR“, 1989 veranstaltete der sowjetische Kulurfonds eine erste Einzelausstellung des ehemals geächteten Nonkonformisten Zverev. Dieser folgte 1994 eine unter dem Patronat des russischen Botschafters stehende und gründlich kuratierte Ausstellung der Galerie Beyer in der Nähe von Stuttgart.

Die Gründung und Einweihung des Zverev gewidmeten „AZ Museums“ in Moskau 2015 stellt den bisherigen Höhepunkt dar. Die erfolgreiche Moskauer Unternehmer Natalia Opaleva war von einem Frauenportrait Zverevs dermassen hingerissen, dass sie in wenigen Jahren die wahrscheinlich umfangreichste Sammlung des Künstlers akquirierte und ein Museum eröffnete, das an zentraler Lage höchsten technologischen und kuratorischen Ansprüchen genügt.

Zverev bleibt trotz aller Anläufe und wiederholten Ankündigungen seines unmittelbar bevorstehenden Durchbruchs ein Insidern vorbehaltener Künstler. Der Verfasser konnte bei einem Besuch in Moskau im Sommer 2019 ausserhalb des AZ Museums und einer vom AZ Museum co-kuratierten Performance im „Westwing“ der Neuen Tretjakov Galerie keine Bilder von Zverev finden. Auch nicht in der permanenten Ausstellung der Neuen Tretjakov Galerie, die doch einige Nonkonformisten zeigt und offenbar diverse Werke Zverevs tief in ihren Kellern lagert.

Auch die Preise für Werke von Anatoly Zverev liegen an internationalen Auktionen oft auf oder sogar unter dem Niveau ambitionierter westeuropäischer Hobby-Maler, die ihre Bilder an lokalen Vernissagen anbieten. Trotzdem bemerkt Gene Shapiro, der führende New Yorker Auktionator und Kenner sowjetischer Nonkonformisten, dass Zverevs Bildinhalte im Gegensatz zu denjenigen anderer Nonkonformisten eben gerade ein globales Kunstpublikum ansprechen, weil sie universelle Aspekte der conditio humana betreffen und nicht nur sowjetspezifische Themen.

Die Zielsetzung der Zverev-Events im Kunstsignal besteht nicht im endlich zu schaffenden kunstgeschichtlichen und kommerziellen Durchbruch des Künstlers – Kennern ist der artist’s artist längst ein Begriff. Hingegen lässt sich Anatoly Zverev als Genre-übergreifendes Kunstphänomen ideal in Verbindung mit verschiedenen künstlerischen Ausdruckformen – vor allem musikalischen – dem deutschen und russisch-deutschen Kunstpublikum näherbringen.

Wenn wir heute auf Videos beobachten können, wie Zverev mit Leichtigkeit, kurz Mass nehmend, ein Bild improvisiert, dann umgibt diesen Künstler ein jazziger Groove. Sein expliziter Momentalismus unterstützt diesen Eindruck. An Miles Davis, den Meister der nicht gespielten Noten, erinnert Zverevs Angewohnheit, regelmässig Teile der Unterlage im Rohzustand und frei von Farbe zu belassen.

Der Innovator Zverev packt, geht tief, erschüttert und hat schon immer Künstler aller Disziplinen und Länder inspiriert. Damit passt er perfekt ins Kunstsignal.

Kontakt

Addresse
Otto-Saffran-Str. 102 41238 Mönchengladbach